Seit 1992 beschäftige ich mich beruflich mit dem Internet. Davor habe ich das bereits einige Jahre im Toppoint Mailbox e.V. gemacht. Also zu Zeiten, als die meisten Bundesbürger „Inter-Nett“ noch für einen Hostessen-Service hielten, wie der Kollege Seeger gern erzählt. Und schon vorher habe ich die Mailbox-Szene in Kiel belebt und mit meinem Mitschüler Kris Köhntopp an der Max-Planck-Schule in Kiel darüber diskutiert, welche Möglichkeiten durch elektronische Kommunikation entstehen könnten – sozial, gesellschaftlich oder auch politisch.
Einiges von dem, was wir erhofft haben, ist eingetreten. Einiges, was gekommen ist, hätten wir nie erwartet oder zu hoffen gewagt. Einiges von dem, was wir als gute Utopie gesehen haben, sehen wir heute eher alptraumhaft – beispielsweise elektronische Stimmabgabe bei Wahlen. Und es tut weh, alte Männer mit Kugelschreibern zu diesem Thema auf dem Niveau von Schülern am Ende der 80er-Jahre des letztens Jahrhunderts argumentieren zu sehen. Und vieles war schlicht unvorstellbar zu Zeiten, als das Kilobyte eMail knapp 5 Deutsche Mark kostete: Spam beispielsweise. Nicht selten diskutiere ich heute mit Menschen, die entweder die DM nicht mehr kennen, oder sich schlicht nicht vorstellen können, was ein Kilobyte denn bitte sein soll.
1992 habe ich mit 4 Menschen, die ich nicht kannte, einen ISP namens NetUSE gegründet – mit zusammengeschnorrtem Geld. Diese Firma, als GmbH gestartet, ist mittlerweile eine AG mit rund 60 Mitarbeitern und gehört immer noch zu gleichen Teilen den 5 Gründungsgesellschaftern. 1993 habe ich auch mein zweites Studium geschmissen und arbeite seitdem für NetUSE – in allen Geschäftsbereichen und auf fast allen Positionen, die diese Firma zu bieten hat. Seit 1994 bin ich verheiratet, seit 1997 bin ich Vater und seit 2000 lebe ich in Eckernförde.
Als 2003 mein Vater gestorben ist, habe ich einige Dinge in meinem Leben grundsätzlich in Frage gestellt, einige Prioritäten haben sich seitdem verschoben. Vor allem habe ich mich gefragt, was von einem bleibt, wenn man abtritt. Nicht in Form von Ruhm und Ehre, sondern vielmehr, was man zu der Gesellschaft beigetragen hat, in der man lebt. An diesem Punkt hat sich entschieden, dass ich mich politisch engagieren würde.
Dafür habe ich mich noch genauer als vorher in meiner Funktion als Wähler mit den verschiedenen Parteien auseinander gesetzt und bin – für mich selbst einigermaßen überraschend, ebenso wie für meine Umgebung – zu dem Entschluss gekommen, der FDP beizutreten. Und ich bin mir sicher, dass das die richtige Entscheidung war. Bei einem Parteieintritt hat man lediglich die Option, sich eine Organisation zu suchen, bei der die Felder der Übereinstimmung möglichst groß und die Felder der unterschiedlichen Ansichten möglichst gering sind. Wer für sich völlige Übereinstimmung mit seiner Partei findet, ist entweder Máximo Líder oder sollte seine rückwärtige Knochenpartie einmal auf Deformationen untersuchen.
Warum diese ganze Vorgeschichte? Nun, damit deutlich wird, dass selbst Leben eines Nerds und alten Sacks, der den meisten Freunden und Bekannten nicht erklären kann, was er beruflich eigentlich macht, ganz viele unterschiedliche Aspekte besitzt. In meinem Fall bin ich mindestens Ehemann, Vater, Eigentümer, Arbeitgeber, Unternehmer und auch Netizen, um nur einiger dieser Aspekte zu nennen.
Und genau ist auch das Problem begründet, dass ich mit der Piratenpartei habe, die momentan als Modetrend durchs Netz wabert. Es ist dort einfach chic, da mitzumachen. Denn sie verkörpert das Gefühl, an der Spitze einer Bewegung mitzumachen, die die Zukunft bedeuten will. Und die Partei bedient Themen, die wichtig sind und eine gesellschaftliche Relevanz besitzen, die ich keinesfalls in Abrede stellen möchte. Aber die Piratenpartei ist keine Partei, sondern vielmehr ein Art „Selbsthilfegruppe Internet und Urheberrecht“ von begrenzter gesellschaftlicher Relevanz. Sie ist monothematisch und gibt auf wichtige Fragen, die für die Wählbarkeit einer Partei geklärt sein müssen, keine Antworten. Sie kann zweifelsfrei eine Partei werden, aber eine Stimmabgabe für sie zur kommenden Bundestagswahl ist ungefähr so wertvoll, als wählte man so.
Denn das hier ist kein Parteiprogramm für eine Bundestagswahl, sondern bewegt sich vielmehr auf dem Niveau eines Grundsatzpapiers, das ich auf der Ebene der Kommunalpolitik gewohnt bin. Selbst unser Kommunalwahlprogramm 2008 in Eckernförde war thematisch breiter aufgestellt.
Welche Themen fehlen mir, um die Piratenpartei inhaltlich einordnen zu können? Nur ein paar, die mir auf den ersten Blick einfallen:
- Wie steht die Piratenpartei zur EU, zu ihrer demokratischen Verfassung (im Sinne von Zustand) und zum Vertrag von Lissabon? Hält sie die EU für Erweiterungsfähig?
- Wie positioniert sich die Piratenpartei im Themenbereich Mindestlohn, bedingungsloses Grundeinkommen, Bürgergeld? Muss Hartz-IV reformiert werden und wenn ja, wie?
- Welche Vorstellungen verfolgt die Piratenpartei in der Gesundheitspolitik? Steht sie für ein einheitliches Kassensystem ohne Wettbewerb (Gesundheitsfonds), ein System von Privatversicherungen mit Basisangeboten und Versicherungspflicht oder eine Mischform davon?
- Wie steht die Piratenpartei zu Innungen und der Zwangsmitgliedschaft in der IHK? Wie positioniert sie sich im Apothekenrecht? Was ist mit dem Schornsteinfeger-Monopol?
- Wie steht die Piratenpartei zu Verstaatlichungen von Unternehmen und der Stützung vorgebliche systemrelevanter Banken und Großunternehmen mit Steuergeldern?
- Wie steht die Piratenpartei zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr? Unterscheidet sie zwischen Einsätzen im Kosovo und Afghanistan und wenn ja: nach welchen Kriterien? Befürwortet sie eine gemeinsame europäische Armee?
- Welche Position nimmt die Piratenpartei bezüglich gentechnisch veränderter Nahrungsmittel, industrieller Landwirtschaft im Verhältnis zum biologischen Landbau ein?
- Mit welcher Haltung darf ich in der Steuerfrage rechnen? Flat tax oder progressive Steuern? Negative Einkommenssteuer? Wie wird zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften unterschieden? Wie sieht’s bei der Erbschaftssteuer aus?
- Wie positioniert sich die Piratenpartei bezüglich der Schuldenbremse?
- Wie steht die Piratenpartei zu Gender Mainstreaming, homosexuellen Lebenspartnerschaften und Teilhaberechten von Menschen mit Behinderung?
- Welche Form der Familienpolitik darf ich von der Piratenpartei erwarten? Wie werden junge Eltern gefördert, Vereinbarkeit von Familie und Beruf hergestellt? Welche Form und Finanzierung von Betreuungsplätzen wird angestrebt?
- Wie steht die Piratenpartei zur Mitbestimmung von Arbeitnehmern und der paritätischen Mitbestimmung von Aufsichtsräten?
- Möchte die Piratenpartei in die Vertragsgestaltung von Firmen mit ihren Führungskräften (Geschäftsführer, Vorstände, Aufsichtsräte) eingreifen? Falls ja: In welcher Form und mit welcher Begründung?
- Wie steht die Piratenpartei zur Wehrpflicht, zur Berufsarmee, zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung und der Plicht zum Zivildienst? Wie möchte sie zur Wiederherstellung von Wehrgerechtigkeit beitragen?
- Wie steht die Piratenpartei zur Mitgliedschaft in der NATO und insbesondere zur „nuklearen Teilhabe“?
- Wie sieht die Piratenpartei die Religionsfreiheit? Wo zieht sie Grenzen zu so genannten Hasspredigern? Wo bezüglich Kreuzen und Kruzifixen in Schulen?
- Wie möchte die Piratenpartei die Rente organisieren und vor allem: wie möchte sie das finanzieren?
- Wie positioniert sich die Piratenpartei im Hinblick auf die Energieversorgung? Solarkraft? Windenergie? Geothermie? Kohlekraft? CCS? Atomkraft? Kernfusion? Verstaatlichung der Netze? Schadstoff-Zertifikate?
- Wie sieht es bei Individualverkehr versus öffentliche Verkehrsmittel aus? Wie mit der Besteuerung CO2-Ausstoßes? Was ist mit Kurzstrecken- und Billigfliegern? Privatisierung der Bahn? Wenn ja, mit Netz?
- Hat die Piratenpartei eine Position bezüglich Elektrosmog?
- Welche Haltung vertritt die Piratenpartei im Nahostkonflikt? Wie steht’s mit dem Existenzrecht Israels? Wie mit dem Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat?
- Was sind für die Piratenpartei grundsätzlich originäre staatliche Aufgaben? Wo sollte sich der Staat heraushalten?
- Welche Elemente direkter Demokratie sieht die Piratenpartei als sinnvoll an, welche lehnt sie ab?
- Ganz grundsätzlich: Wie sieht das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem aus, welches die Piratenpartei anstrebt?
Das soll erst einmal reichen mit Fragen, die ich habe, ohne in irgendein anderes Wahlprogramm geschaut zu haben. Die Reihenfolge ist ohne jede Wertung und zufällig und mit Sicherheit nicht vollständig. Themen in alleiniger Zuständigkeit der Länder, wie Bildung, habe ich ausgenommen. Vermutlich wird man keine Antworten auf alle diese Fragen in den Programmen anderer Parteien finden. Öffentliche Stellungnahmen wesentlicher Vertreter aber wohl schon. Von Seiten der Piratenpartei habe ich zu den Themen noch nichts vernehmen können.
Ich halte die Piratenpartei für wichtig, um bestimmten Diskussionen einen neuen Drive zu geben. Sie kann sich durchaus zu einer ernstzunehmenden Partei entwickeln. Aber um wirklich wählbar zu werden, muss sie zu mehr für die Bürger relevanten Themen Stellung beziehen, als sie es im Moment tut. Ein Rumdrücken um diese Debatten mit den zugehörigen Entscheidungen kann es nicht geben. Im Moment kauftwählt man bei der Piratenpartei die Katze im Sack. Wenn mir als Nerd, als Exoten in der normalen bürgerlichen Gesellschaft, diese Fragen schon sofort in den Kopf kommen –was fragt sich dann wohl erst Max Mustermann?
P.S.: Wer diesen Text als ein Plädoyer für die FDP versteht, sollte noch einmal genau hinlesen. Es ist vor allem ein Plädoyer für richtige Parteien. Die sind anstrengend, nervig, langweilig und vielleicht auch teuer. Aber vor allem sind sie sperrig, man kann sich an ihren Programmen reiben, darüber diskutieren, weshalb sie nach der Wahl womöglich nicht eingehalten werden – man kann sie dafür auch öffentlich an den Pranger stellen. Es gibt viele Möglichkeiten, das politische System und auch die Parteien zu verändern. Und sei es, indem man das Angebot erweitert. Dann aber bitte keine halben Sachen…
2 Antworten zu “Selbst ein Nerd ist mehr, als ausschließlich ein Nerd”
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Dieser Beitrag war ursprünglich ein Kommentar in Kristians Blog, der irgendwie immer länger wurde… Kristian kritisiert Julia Seeligers Begründung dafür, nicht zu den Piraten zu gehen (die, vermutlich nicht allzu überraschend, in weiten Teilen auch di