Vorgestern veröffentlichte Guido Westerwelle unter dem Titel „An die deutsche Mittelschicht denkt niemand“ einen Gastkommentar zum Thema Hartz IV bei Welt Online. Ein Sturm der Entrüstung brach los. Linke, Grüne, SPD und Gewerkschaften bekamen sich vor Empörung überhaupt nicht wieder ein. Bis sich am Freitag die ersten Stimmen in dieses rituelle Skandalisierungsgeschrei mischten, die dem FDP-Parteivorsitzenden in der Sache zustimmten. Was hat der Vizekanzler gesagt und war es tatsächlich skandalös? Zeit für eine Nachbetrachtung.
Okay, schon der erste Satz Westerwelles ist eine polemische Zuspitzung. Die Hartz-IV-Diskussion trüge sozialistische Züge, behauptet er. Das ist natürlich nicht wahr, wie ein Blick hierhin zeigt. Die bessere Wortwahl wäre wohl bedenkliche Züge gewesen. Kein Grund für Empörung jedenfalls, ein ganz normaler politischer Bodycheck. Ansonsten nur Wahrheiten im Teaser: der generelle Ruf nach dem Steuerzahler, alle schauen auf die Zahlungsempfänger, kaum jemand auf die Zahlmeister des Ganzen.
Im ersten Absatz dann beschreibt der FDP-Chef dann die Situation nach dem Karlsruher Urteil: „Wie in einem pawlowschen Reflex wird gerufen, jetzt könne es erst recht keine Entlastung der Bürger mehr geben, das Geld brauche man für höhere Hartz-IV-Sätze.“ Ja, was denn? Genau so war es doch.
Der zweite Absatz ist eine wortgleiche Wiederholung der letzten beiden Sätze aus dem Teaser des Artikels.
Dann ein typischer Westerwelle-Absatz:
Die Mittelschicht in Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren von zwei Dritteln auf noch gut die Hälfte der Gesellschaft geschrumpft. Damit bröckelt die Brücke zwischen Arm und Reich. Eine Gesellschaft ohne Mitte fliegt auseinander, und der Politik fliegt sie um die Ohren.
Diese Meinung muss man nicht teilen. Man darf finden, es sei völlig normal, dass die Gesellschaft in der Mitte auseinanderreißt, dass Menschen aus einer gesicherten Existenz in die Armut rutschen. Aber dass der Vizekanzler unseres Landes das nicht normal findet, spricht eher für als gegen ihn.
Im vierten Absatz beschreibt Westerwelle zunächst einmal den Umstand, dass die Republik sich „tausendmal mehr“ über die CD mit den „Daten krimineller Steuerhinterzieher“ errege, als darüber, dass es Fälle gebe, in den Arbeitnehmer für ihre Arbeitstätigkeit weniger Geld erhalten als die Bezieher von Hartz IV. Ich nehme die Quantifizierung einmal als stilistisches Mittel. Unter dieser Prämisse ist der Beschreibung erst einmal nichts hinzuzufügen. Sie ist wahr.
Der Liberale beschreibt dann die Situation einer Kellnerin mit zwei Kindern, die angeblich im Monat 109 Euro weniger erhalte, als wenn sie Hartz IV bezöge. Diese Rechnung sei falsch, meint unter anderem das BILDblog. Vermutlich ist Westerwelle hier einem Fehler in der Berichterstattung von FAZ, BILD, Welt Online, Münchener Merkur, Hamburger Abendblatt und Spiegel Online aufgesessen. Das darf man ihm sachlich um die Ohren hauen, auch wenn sein politischer Schwerpunkt mit Sicherheit nicht im Bereich der Sozialpolitik liegt. Er hat sich dazu geäußert. Dann muss er folgerichtig auch damit leben, dass man ihm solche Fehler vorhält. Ein Skandal allerdings wäre auch dieser Fehler nicht.
Den Absatz schließt Westerwelle dann mit den Worten:
Diese Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Leistungsgedanken besorgt mich zutiefst. Die Missachtung der Mitte hat System, und sie ist brandgefährlich. Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.
Hier wurde dann das Erregungspotential komplett abgerufen. Aber warum? Er beklagt den mangelnden Abstand zwischen Arbeitslohn und Hartz IV. Da ist er bei weitem nicht der Einzige. Das Hartz IV – auch wenn man unverschuldet zum Empfänger wird – ein „anstrengungsloses“ Einkommen ist, da man es nicht erarbeitet, finde ich sachlich richtig. Problematischer wird es vielleicht bei dem Wort „Wohlstand„. Ein rumänischer Arbeitsloser wird es vielleicht so sehen, ein schwedischer nicht. Und wir in Deutschland? Darüber darf diskutiert werden. Aber skandalös ist diese Aussage auch nicht.
Kleine Randbemerkung: Spiegel Online sah sich genötigt, Westerwelle mangelnde Geschichtskenntnisse wegen der spätrömischen Dekadenz vorzuwerfen. Hier erhält der FDP-Vorsitzende Beistand von unerwarteter Seite – der Sozialistischen Jugend / Stamokap.
Jetzt wieder ein Absatz, bei dem die politische Linke gern aufjault, an dem aber alles stimmt:
An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern. In vielen aufstrebenden Gesellschaften andernorts auf der Welt wird hart gearbeitet, damit die Kinder es einmal besser haben. Bei uns dagegen wird Leistung schon im Bildungssystem gering geschätzt: Wir debattieren Einheitsschulen und das Ende der Notengebung. Dabei muss doch gerade die Jugend lernen, dass Leistung keine Körperverletzung ist.
Diese Ansicht ist Gegenstand andauernder politischer Auseinandersetzung mit Vertretern eines leistungs- und anforderungsfreien Gesellschaftsbildes. Nichts an ihr ist skandalös.
Im folgenden Absatz beklagt Westerwelle, in Deutschland hätten wir die Verteilung des Geldes optimiert und vergessen, wo unserer Wohlstand herkomme. Zu dieser Aussage darf eingewendet werden, dass die Verteilung des Geldes so optimal nicht einmal ist – jedenfalls nicht in der Hinsicht, dass Streu- und Bürokratieverluste vermieden würden. Westerwelle fordert dann Leistungsgerechtigkeit ein und dass durch ein faires Steuersystem und Aufstiegschancen über ein durchlässiges Bildungssystem die Mitte der Gesellschaft „wieder in den Mittelpunkt der Politik rücken.“ So etwas kann man durchaus fordern. Es macht nämlich Sinn.
Seinen Text schließt Westerwelle mit den Worten:
Dieses Umsteuern ist für mich der Kern der geistig-politischen Wende, die ich nach der Diskussion über die Karlsruher Entscheidung für nötiger halte denn je.
Das war’s. Kein Skandal. Nicht einmal ein Skandälchen. Keine Diskriminierung der Bezieher von Hartz IV. Keine Beschimpfungen. Nichts. Gar nichts. Außer vielleicht einem Rechenfehler, der aus der FAZ stammt und dem der größte Teil der Journaille ebenfalls aufgesessen ist, die jetzt die Erregung schürt. Und morgen wird dann die nächste Sau durchs Dorf getrieben…
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